Bücherregale sind für die Generation der Digitalnomaden ein Relikt des 20. Jahrhunderts. Als ich vor einiger Zeit von einem Kunden zu einem Zukunftsworkshop eingeladen wurde, der jede/n Teilnehmer/in bat, ein Lieblings’ding‘ aus seinem Haushalt mitzunehmen, meinten drei jüngere Vertreter*innen der Generation Y und Z, sie hätten ‚nichts Persönliches‘, das ihr Zuhause vollcluttern würde.
Zu unpraktisch sei das ganze Klumpert, das man nicht mitnehmen könne, wenn man morgen spontan in den Flieger nach wer-weiß-wohin steigen würde, um von dort zu arbeiten. Nun, obwohl Corona dieses Tun stark eingeschränkt hat, rechnen Expert*innen nun nicht mehr damit, dass das klassische Bücherregal bald ausgedient hat.
Seit nämlich Bücherregale, die als Videokonferenzhintergrund dienen, ein Ausweis für Belesenheit und Fachwissen sind, erlebt dieses Möbelstück wieder eine Art Coolness-Status in den Wohnzimmern – jeder Generation. Als sogenannte Präsentationsfläche für die Selbstdarstellung der Zoom- und Teams-Crowd.
Ob Kunst- oder Architekturbildbände, philosophische Standardwerke oder bunte Taschenbücher, viele haben rasch gelernt, dass Bücher eine Ausstellungsfläche für das eigene Ich repräsentieren.
Das Bücherregal überlebt durch die digitale Kommunikationskultur also seinen angekündigten Niedergang. Dazu bietet es für Bewerbungsgespräche und andere Situationen der Selbstdarstellung die ideale Hintergrundfolie.
Welchen Hintergrund wir auch wählen, wir zeigen damit, wer wir sind. Wer sich im chaotisch unaufgeräumten Wohnzimmereck im Zoom-Bewerbungsgespräch vorstellt, macht wahrscheinlich keinen guten Eindruck. Wer jedoch ein ästhetisch eingerichtetes Wohnzimmer im Hintergrund offenbart, stellt sich als Einrichtungsprofi oder strukturierte Person dar.
Vor kurzem war auf derstandard.at zu lesen, dass eine Bewerbungs-KI Jobsuchende mit Bücherregal im Hintergrund anderen Jobbewerbern bevorzugt. Zumindest dann, wenn das suchende Unternehmen die Software des Münchner Start-ups Retorio einsetzt. Zu diesem Ergebnis kam der Bayerische Rundfunk bei einer Untersuchung der künstlichen Intelligenz (KI) dieser Firma.
Die KI soll Unternehmen beim Auswahlprozess unterstützen. Diese sei anhand der Daten von tausenden Videos und den Einschätzungen von Experten trainiert worden. Kritiker werfen solchen Systemen aber vor, problematische menschliche Entscheidungen aus der Vergangenheit zu reproduzieren.
Ich bin vor kurzem umgezogen und habe mir zwei neue Bücherregale bestellt. Um die Umzugskartons schnell zu leeren, habe ich die Bücher irgendwie in die Regale gestellt. Gezoomt habe ich meist an einem hellen Ort im Raum, der meine Küche im Hintergrund zeigte. Die Recherche zu diesem Artikel lässt mich das nun überdenken. Ich werde meinen Schreibtisch für meine Zoom-Gespräche vor die neue Bücherwand stellen und mich fragen: Was will ich durch meinen Bücherhintergrund von mir preisgeben? Dann dient das Bücherregal wohl als „passender Rahmen“ für meinen Selbstentwurf.