Im Reich der Kunst wird der visuelle Sinn oft als primärer Weg der ästhetischen Erfahrung angesehen. Und doch wissen wir, dass der Geruchssinn der unmittelbarste der menschlichen Sinne ist. Beim Sehen, Hören oder Fühlen müssen die Signale erst in der Großhirnrinde des Gehirns verarbeitet werden. Düfte dagegen wirken im Gehirn direkt auf das limbische System, wo Emotionen verarbeitet und Triebe gelenkt werden.
Ich bin in meiner Ausbildung an der Weinakademie zum Markt geschickt worden mit der Einladung, Obst, Gemüse, Pflanzen und vieles mehr aufmerksam zu riechen, um Weine sensorisch beschreiben zu können. Ich werde diese Zeit nie vergessen, weil sie meine Geruchssensoren sehr geschärft hat. Ich bilde mir ein, dass ich seither viel intensiver auf Gerüche und Aromen reagiere. Wein riecht nun schon mal nach einer nassen Schotterstraße oder einem Topf voller reifer Früchte, die in Rum eingelegt wurden.
Die Kraft des Geruchssinns
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Gerüche Erinnerungen wachrufen, Gefühle von Behagen oder Unbehagen, von Abneigung oder Begehren auslösen. Versuche dich an Gerüche zu erinnern, die starke Assoziationen zu Menschen oder Situationen in deinem Leben herstellen. Gerüche helfen sogar dabei, eine neue Sprache zu erlernen. Eine Studie, die letztes Jahr im Fachmagazin Scientific Reports publiziert wurde, erklärte, dass ein Duft, der während des Vokabellernens zu riechen ist, auch beim Schlafen in der Luft liegt, dazu beiträgt, dass genau diese Vokabeln vom Langzeitgedächtnis gespeichert werden; weil sie sind mit dem Duft verknüpft sind.
Die direkte Verbindung zum limbischen System, unserem emotionalen und gedächtniszentrierten Nervenzentrum, bewirkt, dass Duftinformationen tief mit unseren Gefühlen und Erinnerungen verwoben werden. Auf diese Weise können Düfte unsere Entscheidungen unmittelbar und unbewusst beeinflussen. Der Geruchssinn ist unser ausgefeiltester chemischer Sinn, da Düfte aus komplexen Mixturen von tausenden chemischen Elementen bestehen. Schon eine minimale Menge an Molekülen kann einen Geruchseindruck auslösen; ein Milligramm Vanille in 1000 Kubikmetern Luft genügt beispielsweise, um wahrgenommen zu werden.
Geruch – Urform der Kommunikation?
Kunst, die von der Nase direkt zu den Emotionen und Erinnerungen führt – gibt es die? Olfaktorische Kunst ist ein sensorisch-revolutionäres Feld, das von Künstlern wie Peter de Cupere, Sissel Tolaas, Wolfgang Georgsdorf, Emeka Ogboh und Gayil Nalls vertreten wird.
Peter de Cupere, ein Pionier der olfaktorischen Kunstszene, nutzt Gerüche, um die Verbindung zwischen Mensch und Umwelt zu erforschen. Mit Scratch-and-Sniff-Bildern, die Gerüche freisetzen, und Installationen, die den Duft von Luftverschmutzung in den Äther senden, fordert er die traditionellen Kunstformen heraus und weckt unsere Neugier auf die unsichtbaren Schichten unserer Umwelt.
Ähnlich innovativ ist Sissel Tolaas, die mit ihrer chemischen Expertise Gerüche entwickelt, die starke emotionale Reaktionen hervorrufen können, und so unser Verständnis von Kunst und Kommunikation erweitert. Tolaas betrachtet Geruch als Urform der Kommunikation, ein Werkzeug, das weit über die Grenzen konventioneller künstlerischer Medien hinausgeht.
Wolfgang Georgsdorf hat eine ‚Geruchsorgel‘ namens Smeller 2.0 entwickelt, die es ermöglicht, olfaktorische Kompositionen präzise aufzuführen. Georgsdorf betrachtet unsere Gesellschaft als ‚osmophob‘ und setzt sich für eine umfassendere Anerkennung des Geruchssinns ein.
Geruchskunst als Forschungsgegenstand
Die Künstlerin und Philosophin Gayil Nalls sieht in der olfaktorischen Kunst ein immaterielles Weltkulturerbe. Ihr Projekt „World Sensorium“ ist eine Zusammensetzung globaler Pflanzendüfte, die die Vielfalt und Gemeinsamkeit menschlicher Erfahrung repräsentiert. Nalls verbindet Wissenschaft und Kunst auf eine Weise, die unsere konzeptuellen Grenzen sprengt und neue Formen des künstlerischen Ausdrucks schafft.
Diese KünstlerInnen brechen mit der Tradition und bringen uns eine Kunstform, die sowohl intim als auch universell ist. Ihre Werke bieten eine multisensorische Erfahrung, die die oft vernachlässigten olfaktorischen Aspekte unseres Lebens betont. Durch die olfaktorische Kunst werden wir ermutigt, die Welt auf eine tiefere, bedeutungsvollere Weise zu erforschen und zu verstehen.
Olfaktorische Kunst beweist, dass die menschliche Erfahrung und Kreativität nicht an das Sichtbare gebunden sind. Vielmehr öffnen uns Künstler wie de Cupere, Tolaas, Georgsdorf und Nalls die Augen – oder besser gesagt, die Nasen – für die unentdeckten Möglichkeiten, die unsere Welt zu bieten hat.
Die Welt anders entdecken
Sie fordern uns heraus, unsere Umgebung anders wahrzunehmen und zu erfahren, wie Gerüche die Aufmerksamkeit auf unsere Umgebung, unser Gedächtnis und sogar unsere Emotionen formen können. Sie erinnern uns daran, dass jede Note eines Duftes eine Geschichte erzählt.
In einer Zeit, in der die visuellen und akustischen Medien dominieren, wirkt die olfaktorische Kunst als dringende Erinnerung an die Komplexität unserer Sinne und den Reichtum, den diese bergen. Sie zeigt uns, dass es in der Kunst, wie im Leben, immer Raum für Entdeckungen und Neuerfindungen gibt, besonders wenn wir bereit sind, unsere Sinne auf eine Reise ins Unbekannte mitzunehmen.
Ist Geruchskunst ein Kassenschlager?
Auf die Frage, ob sich Geruchskunst gut verkauft, antworten alle befragten Künstler: „Nein.“ Um den KünstlerInnen Tribut zu zollen, die helfen, unsere Sinne zu schärfen, besuche eine Ausstellung, die olfaktorische Kunst präsentiert. Oder lies dieses faszinierende Buch, das sich dem Thema eingehend widmet:
https://www.kunstforum.de/band/2024-294-smell-it-das-olfaktorische-in-der-kunst/